Eine Woche mit Will und Jon Kabat-Zinn

Der Achtsamkeits-Retreat, der zum tiefen inneren Frieden führte und einem “Psycho-Lifting” für alle. Prädikat: nobel.

Eineinhalb Jahre habe ich auf einen Platz im Seminar “The Way of Awareness - an Immersion Experience” gewartet. Die Tombola hat es schlussendlich gut mit mir gemeint und mich kurz davor ausgelost, um von der Warteliste nachzurücken. Als ich den wunderschönen mit Holz getäfelten Seminarraum betrete, sehe ich 180 Meditationsplätze, Zabutons. Etwa 1m² pro Person für die kommenden Tage.

Stunden vor offiziellem Beginn sitzt er bereits hier, der weltweit anerkannte Experte und emeritierte Professor Jon Kabat-Zinn, Ph.D., der im Jahr 1979 die MBSR Clinic, das Institut für Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion an der University of Massachusetts Medical School in den USA gegründet hat. 1995 folgte das Center for Mindfulness in Medicine, Health Care and Society. Ein Gründervater der seinesgleichen sucht. Ich fühle mich besonders, so alleine im Raum mit ihm und suche mir demütig einen Platz mit Blick auf den Watzmann.

Blick über Salzburg, Bergkulisse

Von Beginn an sitzen Vater und Sohn genauso da wie der Watzmann, solide wie ein Fels, allen Wetterverhältnissen strotzend, wissend über die vorübergehenden Verhaltensmuster der Natur: Der Kern der Bergmeditation, die Teil der MBSR-Lehre ist. Es war ebendiese Bergmeditation, die mich während meines Burn-Outs im Jahr 2017 wieder geerdet hat. Die Bergmeditation, mit der ich eine meiner ersten Yogastunden begonnen habe: auf der Alm mit den Naturfreunden, beobachtet von Kühen. Wer war da wohl mehr entspannt?


Jon Kabat-Zinn, der Watzmann und die geführte Meditation. Für mich fühlt sich dieser Moment an, wie einen Rockstar zu treffen, der die Stille rockt. Wir alle sind hier für die pure Aufmerksamkeit, das Schulen unserer Awareness. Was auf Deutsch nicht immer so einfach zu übersetzen ist, klingt auf Englisch ganz klar. Gemeint ist das Ge-wahr-sein. Die Aufmerksamkeit des einzigen Moments, den wir in Wahrheit haben, JETZT. Das einfache Sein im Jetzt.

Will Kabat-Zinn und Jon Kabat-Zinn, Bild: Arbor Seminare, St. Virgil/Salzburg

In der Stadt von Mozart, beschreibe ich Aufmerksamkeit (awareness) als die Pause zwischen den Noten.“, fein nuanciert Jon Kabat-Zinn jeden Satz. Er zitiert Literaten und Nobelpreisträger, den Dalai Lama und den wohl bekanntesten buddhistischen Mönch und Schriftsteller im Bereich Achtsamkeitslehre, Thích Nhất Hạnh (*2022).

Mit fast 80 Jahren sitzt Jon Kabat-Zinn diszipliniert im Lotos. Wir beginnen um 06:00h morgens in nobler Stille (noble silence) und wechseln nahtlos zu einer schweigenden Gehmeditation im Garten des Konferenzzentrums. Diesen Wechsel nehmen wir immer wieder vor, bis uns die Zimbel zurück in den Raum läutet. Eine Uhr gibt es nicht. Würde er Uhren verkaufen, scherzt Jon, stünde nur „NOW“ auf dem Ziffernblatt. So eine Uhr würde ich sofort kaufen, mir vermutlich sogar aufs Handgelenk tätowieren lassen– schließlich gäbe es auch keine Zeitumstellung mehr zu beachten.

In der Stadt von Mozart, beschreibe ich Aufmerksamkeit (awareness) als die Pause zwischen den Noten
— Jon Kabat-Zinn

Noble und erlösende Stille

Der chronologische Tag erstreckt sich bis etwa 21.30h. Die Stille wird unterbrochen von geführten Passagen durch die beiden Vortragenden und dem Austausch in der großen Gruppe. „Ich höre auch diejenigen, die nicht sprechen,“ schafft es Jon zu jederzeit eine Verbindung mit allen Teilnehmenden zu halten und Wertschätzung nach amerikanischer Manier zu artikulieren. Dieses kollektive Hochhalten vermisse ich oft im deutschen Sprachraum. Überhaupt ist seine Wortwahl, sein Auftreten wie der Besuch in einem Gault Millau Restaurant, es zergeht auf der Zunge. Die hohe Kunst der Meditation, wage ich zu subsumieren.


Die beste Meditation ist keine Meditation, beziehungsweise stellt unser ganzes Leben eine Meditation dar.“, wird uns von Jon Kabat-Zinn mit auf den Weg gegeben. Wenn wir von kreischenden Kindern umgeben sind, im stressigen Büroalltag feststecken oder eine persönliche Katastrophe vorherrscht, dann sind unsere Meditationskünste gefragt. Hier, unter Laborbedingungen scheint es ganz leicht. Es ist wie das Trainieren von Muskeln im Fitness-Studio, nur wenn wir gestärkt hervortreten, können wir das Leben „stemmen“,betont der Experte.


Im ‚Labor‘ werden also zuerst

  • die äußeren Reize in Form von Smartphones eliminiert,

  • dann das gesprochene Wort reduziert.

  • Beim „retreat within the retreat“ möchten wir schließlich auch das Schreiben von Notizen unterlassen

  • und eine längere Schweigeperiode praktizieren….nach einem kurzen Schock fühle ich mich wie erlöst.

Meditationsraum deluxe mit Blick - Mountain Meditation View inklusive

Einmal NICHTS müssen

Einmal nichts müssen, etwas Weglassen, um das ‚Ziel‘ zu erreichen. Gibt es überhaupt ein Ziel? Soeben habe ich einen Freibrief bekommen, einfach ich zu sein. Nur halt, Stopp, wer ist dieses „Ich“? Wenn wir uns den Satz „I am meditating.“ vornehmen, streichen wir das I. Diese Erklärung sollte vorerst reichen. Ein Freibrief, zu SEIN.

Warum wir hier sind, war die Eingangsfrage am Kennenlernabend. Warum wir wirklich hier sind, die darauffolgende. Mein Innerstes gibt Antwort. Egal mit welcher Geschichte jeder hierhergekommen ist, wir lernen damit zu SEIN. „Sit with it.“, sagt Jon Kabat-Zinn. Also sitzen wir. Wenn wir gehen, sind das winzig kleine und sanfte Schritte, „ganz so, als wäre jedes Aufkommen der Fußsohle ein Kuss für die Welt“, so der Meister. Für ihn ist der tägliche Weg aufs Meditationskissen oder in der Gehmeditation eine Liebeserklärung (in seinen Worten, „a love affair“). Es ist eine Liebeserklärung ans Leben, ein pflegen des Gartens der Gedanken und ein Entfernen des Unkrauts – so verstehe ich es. Nur die Mutigen verweilen mit allem, was kommt.

Mit liebevoller Achtsamkeit sich selbst begegnen.


Während der x-ten Gehmeditation in Stille betrachte ich Bäume, Gänseblümchen, Enten, Bärlauch und was sonst der Weg vor mir ausbreitet. „Wir möchten alles so wahrnehmen, wie es sich vor uns in diesem Moment entfaltet“. Es gibt nämlich immer nur den einen Moment. Der jetzige Atemzug ist genauso fein, wie der nächste. Anstatt uns unserer wertvollen Momente zu berauben, anstatt uns in Unter-haltung und Suchtmittel zu flüchten, um unsere Gedanken, Gefühle und Empfindungen nicht hören, spüren oder fühlen zu müssen: SEI DAMIT. Der Weg, der sich dann ergibt, trägt den Titel: Mit liebevoller Achtsamkeit sich selbst begegnen.

Habe ich die Ankommenden zu Beginn der Woche (mich eingeschlossen) als eine graue Post-Corona-Masse mit hängenden Mundwinkeln wahrgenommen, sehe ich nun, wie jeden Tag ein paar Schichten mehr hinunterfallen. Falten glätten sich, Gesichter werden weicher, Körperhaltungen aufrechter, Mundwinkel zeigen nach oben, Augen und Herzen beginnen zu leuchten. Meine Sitznachbarin verlautbart beim letzten Frühstück mit gesprochenem Wort: „Das ist ein Psycho-Lifting“. Und wie Recht sie hat!

Es hat einige Tage gedauert, bis ich in der Lage war, schriftlich zu reüssieren. Das erste Mal wollte eine Erfahrung im Spüren bleiben, ohne verkopft und zerdacht zu werden. Eine Meditation im Moment also, ohne Notizen für später. Nicht, weil es nicht genügend Worte dafür gäbe, sondern weil Gedanken sich in Gefühle und Gefühle sich in einen tiefen inneren Frieden verwandelten. Ich war in einem Stadium, wo man keine Worte mehr braucht.


Menschen fragten mich, ob sich der Retreat ausgezahlt habe und wie viel er denn gekostet hätte. Auch auf einen Geldbetrag hatte ich keine allgemeingültige Antwort. Es gab einfach dieses vorherrschende Gefühl von Frieden, offenem Herzen, Freiheit und dem Zuhause Sein in mir. Wenn die Fragenden das als „sich auszahlen“ betiteln würden, dann ja, mehr als alles andere. Inzwischen verkörpere ich täglich morgens die sitzende und abends die gehende Meditation. Ich bin mit meinen Gefühlen und Gedanken und in voller Aufmerksamkeit (awareness), wie sich der Weg dazu entfaltet.

Tipp zum Schluss

Hast du schon einmal versucht, ein Auto mit 130km direkt einzuparken? Wenn du also von einem langen oder hektischen Tag ins Bett gehst, übe dich erst in der Gehmeditation, um Körper wie Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes herunterzufahren. Du wirst bemerken, der Atem wird tiefer, die Bewegungen sanfter und die Gedanken ruhiger. Vielleicht hast du sogar einen Garten zur Verfügung oder eine Wiese, auf der du ein Stück weit barfuß „die Erde küssen kannst“ und sanft einen Fuß vor den anderen bringst. Schritt für Schritt dem entspannten Schlaf ein bisschen näher.


Tiefere Erkenntnisse aus dem Retreat wird es in einem Vortrag mit Übungen am 15.11.2024 in Bruck/Mur geben. Bei Interesse melde dich unverbindlich an und du erhältst weitere Details marlies@allesachtsam.at

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